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Carl Adam Petri

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Petri-Netze - eine geniale Idee

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Carl Adam Petri war überzeugt, dass viele der in den Natur- und Ingenieurwissenschaften untersuchten oder konstruierten Systeme entweder diese Eigenschaften besitzen oder durch asynchrone, nebenläufige Modelle hinreichend genau beschrieben werden können. Und er hatte Recht. In technischen, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Systemen passieren viele Dinge gleichzeitig. Es reicht zugleich häufig aus, zur Erfassung der wesentlichen Vorgänge, beispielsweise in einem chemischen Reaktor, die wichtigen Ereignisse wie Öffnen oder Schließen eines Ventils, das Über- oder Unterschreiten eines Drucks, eines Pegels etc. zu erfassen.

Es war die große Leistung von Petri, die Sicht auf Systeme auf das absolut Wesentliche zu reduzieren und dafür geeignete Abstraktionen einzuführen. Petri-Netze verblüffen durch ihre Einfachheit. Sie werden aus einigen wenigen Grundelementen gebildet.

Zu den Grundelementen gehören Stellen (graphisch durch Kreise dargestellt), Transitionen (graphisch durch Rechtecke dargestellt), gerichtete Verbindungen zwischen Stellen und Transitionen (graphisch durch Pfeile dargestellt) und Marken (graphisch durch dicke Punkte dargestellt, die in Stellen residieren). Eine Stelle repräsentiert einen lokalen Zustand, wobei die Gesamtheit aller Stellen eines Petri-Netzes den Zustandsraum bildet; eine Transition repräsentiert eine Aktion, die den gegenwärtigen Zustand durch den Transport von Marken in einen Folgezustand überführt; die Pfeile definieren, auf welchen Wegen Marken durch eine Transition transportiert werden können.

Zu einem Petri-Netz gehört eine initiale Markierung, d.h. die Besetzung von einigen Stellen mit Marken. Die Ausführung eines Petri-Netzes erfolgt durch „Feuern“ von Transitionen. Eine Transition ist dann bereit zu feuern, wenn in allen eingangsseitigen Stellen wenigstens eine Marke („Token“) residiert (d.h. die zugehörigen lokalen Zustände sind eingetreten). Die Feuerungsregel besagt, dass aus allen eingangsseitigen Stellen ein Token entfernt wird und in alle ausgangsseitigen Stellen ein Token addiert wird.

Die herausstechenden Eigenschaften der mittels Petri-Netztechnologie modellierten Systeme ist ihre Asynchronität und Nebenläufigkeit auf der Basis diskreter Zustände. Asynchronität bedeutet, dass eine Zustandstransformation durch Feuern einer Transition weder durch einen Takt, noch durch Zeitbedingungen erfolgt, sondern ausschließlich durch Eintritt eines Zustandes. Nebenläufigkeit beschreibt die Eigenschaft, dass unabhängige Aktivitäten in einem System gleichzeitig stattfinden können, in einem Petri-Netz repräsentiert durch Transitionen, die unabhängig voneinander gefeuert werden können.
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Genial aber verkannt?

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Was hat Petris Idee bewirkt?

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Petri-Netze gehören zu den Grundlagen der Informatik. Sie werden in ganz unterschiedlichen Anwendungsbereichen der Informatik und in vielen speziellen Varianten verwendet. Im Studium lernen die meisten Informatikstudenten heute Petri-Netze als universelles Modellierungswerkzeug kennen.

Systembiologen modellieren biochemische Prozesse, Wirtschaftsinformatiker modellieren betriebliche Abläufe. Produktions- und Eisenbahntechniker modellieren technische Prozesse. Dazu legen sie sich jeweils ihre eigenen Varianten von Petri-Netzen zurecht. Petri fand das zwar durchaus legitim, aber er hätte es lieber gesehen, wenn diese Varianten systematischer aus der Grundform abgeleitet wären. Zunehmend wird auch in der Softwaretechnik modelliert und analysiert. Dort, wo die UML dann doch nicht reicht, werden Petri-Netze wichtig.

Fachlich floss also vieles von Petri’s Beiträgen in den klassischen Bestand der Informatik. Das beweist zunächst einmal, dass es auch in der Informatik Visionäre geben kann. Vieles was Petri zu Beginn der 1960er Jahre vorausgesehen hat, ist eingetreten, insbesondere die zentrale Rolle asynchron kooperierender Systeme und die Verwendung der neuen Technik zur Kommunikation. Petri war in seiner Weitsicht unbeirrbar und unabhängig wie nur wenige. Der jeweils aktuelle Zeitgeist und vorherrschende Moden haben ihn nie wirklich interessiert. Ihn hat der große Bogen, die Informatik als neue Wissenschaft, fasziniert. Er hat beobachtet und analysiert, was um ihn herum in der Informatik entstand, insbesondere in der „Künstlichen Intelligenz“. Aber nur wenig davon hat ihn wirklich beeindruckt.
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Der Informatiker Carl Adam Petri

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Carl Adam Petri war ein außerordentlich offener und uneiteler Mensch. Jede Frage von Besuchern oder Mitarbeitern hat er geduldig beantwortet. Auf aggressives, vorwurfsvolles Argumentieren ist er allerdings gar nicht erst eingegangen. Wer Petri über einen längeren Zeitraum persönlich kennen lernen durfte, kann sicherlich eine Reihe hübscher Anekdoten berichten. Beispielsweise waren nachmittägliche Besuche in seinem Büro ein wenig gefürchtet: sie endeten gelegentlich recht spät und im Dunkeln, weil Petri das Licht anzumachen vergaß. Auf Fragen hat er manchmal zunächst nicht reagiert. Er dachte nach, höchstens unterbrochen vom Schreck über die herunterfallende Asche seiner Zigarette. Dann, nach gefühlten 10 Minuten, kam eine druckreife Antwort. Ende der 1970er Jahre beantragte Petri für jeden seiner Mitarbeiter einen Computer. Ein Computer passte inzwischen in ein Büro, und kostete „nur“ einige 10.000 DM. Auf die Frage der Verwaltung, ob diese vielen Computer denn wirklich ausgenutzt würden, antwortete er nicht etwa mit einer langen Erläuterung über den Vorteil unmittelbarer Verfügbarkeit. Die knappe, aber reiflich überlegte Antwort von Petri lautete: Feuermelder würden auch nicht „ausgenutzt“. Das führte in der Verwaltung natürlich zu allgemeiner Verwunderung über dieses seltsame Argument.

Für seine Arbeit wurde Petri mit vielen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet. Vermutlich hat ihm der Werner-von-Siemens-Ring für herausragende Verdienste um die Technik in Verbindung mit der Wissenschaft am besten gefallen. Dieser Preis ist zwar vielleicht nicht so sehr bekannt, denn er wird nur alle 3-4 Jahre verliehen. Aber über die Preisträger entscheiden die Präsidenten und Vorstände der Deutschen technischen und wissenschaftlichen Vereinigungen. Bei der Verleihung des Ringes an Petri im Jahr 1997 war der damalige Bundespräsident Roman Herzog dabei.

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Wie hat die IT-Industrie davon profitiert?

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Die Petri-Netze selbst wurden verallgemeinert. Insbesondere wurden Varianten entwickelt, die, „schwarze“ Marken durch „gefärbte“ Marken und Datenelemente ersetzen. Damit kann man sehr intuitiv den Umgang mit Daten modellieren, und man erhält sehr kompakte Darstellungen. Alle möglichen Komponenten wurden mit Zeitdauern oder Zeitstempeln versehen. Es wurden zahlreiche Werkzeuge programmiert, und es entstand eine weltweite Infrastruktur aus speziellen Tagungen, Sonderbänden, Vorlesungsskripten und Lehrbüchern zu Petri-Netzen, neben vielerlei Beiträgen in Tagungen zu generellen theoretischen und angewandten Fragen der Informatik. Das ist bis heue so geblieben.

Aber auch das kann man von Petri lernen: Trotz der rasanten Erfolge der Informatik sollten wir uns mehr um „Informatik als Wissenschaft“ kümmern. Petri empfand den Zustand der Informatik immer als “prä-Newton“; erst recht als „prä-Einstein“.

Auf dem Gelände von Schloss Birlinghoven wird seit nunmehr 50 Jahren über Informatik-Themen geforscht; erst im Rahmen der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, jetzt in vier Informatik-orientierten Fraunhofer-Instituten. Von hier aus hat Petri dem Renommee der deutschen Informatik einen großen Dienst erwiesen. Am Eingang zum Schloss erinnert eine Büste an einen großen Pionier der Informatik, Konrad Zuse. Es stünde der Fraunhofer-Gesellschaft als forschende Einrichtung gut zu Gesicht, Petri genauso zu ehren, auch wenn sein Beitrag zur Informatik zu seiner Zeit keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen gebracht hat. Nicht nur in den angelsächsisch geprägten Ländern sollte man ein wenig stolz sein auf seine eigenen weltweit anerkannten wissenschaftlichen Pioniere.

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Nachschlag

Prof. Dr. Wolfgang Reisig ist emeritierter Leiter des Lehrstuhls „Theorie der Programmierung“ am Institut für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat einige Jahre mit Carl Adam Petri zusammengearbeitet.

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Carl Adam Petri war einfach seiner Zeit voraus. In den 1960er Jahren adaptierte die aufkommende Informatik als theoretische Grundlage ein Modell, das der Logiker Alan Turing für ein Problem der Grundlagen der Mathematik entwickelt hat: Was kann man überhaupt mathematisch berechnen? Gibt es mathematische Fragestellungen, die prinzipiell nicht algorithmisch lösbar sind? Wie sehen solche Fragestellungen aus? Dahinter steckt das Konzept die Turingmaschine zur Charakterisierung rekursiver Funktionen. Außerdem wurde ein Grammatikmodell adaptiert, nämlich das des Linguisten Noam Chomsky. Mit dessen einfachsten Varianten ist die Syntax von Programmiersprachen beschreibbar. Man spricht hier von der Hierarchie der Chomsky-Grammatiken. Zu dieser Zeit gab es nur wenige eigenständige grundlegende wissenschaftliche Beiträge der Informatik. Am wichtigsten waren vielleicht die richtungsweisende Arbeit von Rabin und Scott zu endlichen Automaten und ihren Entscheidungsproblemen, und das Kellerprinzip zum Übersetzen arithmetischer Ausdrücke von Klaus Samelson und Friedrich L. Bauer aus München. 

Unerhörte Vorschläge 

Es war damals schwer genug, sich an diskrete Schritte als grundlegendes Konzept der Informatik, die noch nicht so hieß, zu gewöhnen. Die Natur- und die Technikwissenschaften beschrieben seit einem Jahrhundert dynamisches Verhalten ganz selbstverständlich auf der Zeitachse der reellen Zahlen. Denn so lassen sich wunderbar stetige Funktionen differenzieren und integrieren. Das wiederum hilft sehr zum Verständnis natürlicher Prozesse. Mit den Computern wurde allerdings die numerische Simulation immer wichtiger. Das Verhalten eines Systems wird nun mit Sequenzen diskreter Schritte zwischen globalen Zuständen modelliert. Im Prinzip gilt das bis heute noch,. Aber schon beim Versuch, das Internet zu modellieren, wie es von Zustand zu Zustand hüpft, wird klar: das geht nicht, auch „im Prinzip“ nicht. In welchem Zustand ist das Internet denn gerade jetzt? Globale Zustände sind auch rein konzeptionell nicht vernünftig für „große“ Systeme. Aber damals waren Systeme im Vergleich zu den Maßstäben heute „klein“, und mit Schrittsequenzen angemessen beschreibbar. Und da legt ein junger Assistent an der Uni Bonn eine Dissertation vor, die das alles in Frage stellt und ganz unerhörte Vorschläge macht. 

Carl Adam Petri fragt zunächst, wie man auf einem realen Rechner so eine Turingmaschine überhaupt implementieren kann. Denn ihr Speicher ist ja unbeschränkt. Doch einen unendlichen Speicher kann man nicht bauen. Bestenfalls kann man einen endlichen Speicher erweitern, wann immer nötig. Um aber einen endlichen Speicher beliebig oft erweitern zu können, muss man alle „zentralen“ Aspekte vermeiden, insbesondere einen zentralen Taktgeber mit Leitungen, die unbeschränkt lang werden können und deshalb irgendwann einen längeren Takt brauchen. Petri schließt daraus, dass asynchrone Modelle und ihre technische Realisierung leistungsfähiger sind als synchrone, sequenziell arbeitende, zentral getaktete. Und deshalb schlägt er vor, asynchrone Modelle als den Normalfall und Startpunkt der Theoriebildung für die Informatik zu machen. Ein für die damalige Zeit sehr ambitionierter Vorschlag, denn viele Zeitgenossen hatten schon Probleme, das sequenzielle Rechnen zu verstehen. Und Petri sah asynchron kooperierende Komponenten nicht als zusätzlichen Aspekt, um den man das sequenzielle Rechnen erweitert, sondern als ein ganz grundlegendes Prinzip. Er fand Automaten, die von einem globalen Zustand zum nächsten springen, als grundlegendes Modell für die Informatik nicht sinnvoll.

Radikal neue Ideen

Damit konnte er allerdings die Fachwelt zunächst nicht überzeugen. Zudem enthielt seine Dissertation weitere provokante Vorschläge: Als elementare Operationen eines Rechner-Modells wählte er nicht das Lesen und Aktualisieren von Werten in Speicherplätzen, sondern „erreichen und verlassen“ lokaler Zustände, oder „geben und nehmen“ elementarer Objekte. Und da ist schließlich der Titel der Arbeit „Kommunikation mit Automaten“. Das war radikal neu, ein Paradigmenwechsel. Zu Zeit von Petri waren Computer dazu da, schwierige oder rechenintensive Aufgaben zu lösen. Mit seiner Dissertation war nun der Gedanke in der Welt, dass Computer mehr können. Petri sah die aufkommende neue Technik primär zur Kommunikation, also zur technisch unterstützten zwischenmenschlichen Kommunikation und zur Kommunikation mit und zwischen Computern. Eine Annahme, die heute für uns fast schon banal erscheint, aber 1960 eher in den Bereich von Science Fiction fiel. Computer waren damals noch tonnenschwer und kosteten Millionen. Die Ein- und Ausgabe war mühsam mit Lochstreifen und Lochkarten. In der Regel wurden sie für numerisches Rechnen und zur Verwaltung von Daten verwendet. In diesem Kontext war die Dissertation von Petri fast schon zu interessant, jedenfalls war sie keine Dissertation im üblichen Sinn. Sein Doktorvater, der Numeriker Heinz Unger von der Universität Bonn, hat den renommierten Alwin Walther in Darmstadt um Unterstützung gebeten. Zwar wurde Petri 1962 in Darmstadt promoviert, und seine Dissertation [1] als die beste des Jahrgangs ausgezeichnet, doch durchsetzen konnte er sich mit seiner Idee noch nicht. Die Theorie des sequenziellen Rechnens feierte zudem einen Triumph nach dem anderen. Formale Sprachen und Automaten, Komplexitätstheorie, tiefliegende Zusammenhänge zwischen Automaten und Logik, die p = np –Problematik verfestigten sich in den 1960er Jahren zu einem wissenschaftlichen Fach, der Theoretischen Informatik. Und daneben stand Petri so ziemlich allein mit seinen „komischen“ Ideen.

Heftige Diskussionen

Doch er gab nicht auf. Er wusste offenbar immer, was er wollte. Er hat beispielsweise dreimal Abitur gemacht: Ein Notabitur 1943 in Leipzig, ein Abitur in englischer Gefangenschaft, und eins in Hannover, mit dem er Mathematik studieren konnte. Nach seiner Promotion leitete er bis 1968 das Rechenzentrum des Mathematischen Instituts der Universität Bonn. Nebenher baute er seine Theorie aus. In dieser Zeit wurde auch Victor Yngve auf Petri aufmerksam, der zusammen mit Wissenschaftlern des MIT bei IBM Spezialrechner der Reihe 700/7000 entwickelt hat. Victor Yngve hat Petri dem sehr bekannten israelischen Philosophen, Mathematiker und Linguisten Yehoshua Bar-Hillel empfohlen, der ihn 1964 zum International Congress on Logic and Philosophy in Science nach Jerusalem einlud. Dort kam es zu heftigen Diskussionen mit damals tonangebenden Informatikern und Bar-Hillel hat Petri offenbar massiv unterstützt. Zudem wurde in dieser Zeit auch das amerikanische Militär auf Petri aufmerksam und hat seine Dissertation übersetzt [2]. Die allerdings wurde als „geheim“ eingestuft, weshalb Dines Bjørner, langjähriger Professor an der Technischen Universität Kopenhagen und damals Mitarbeiter von IBM Research, die Dissertation selbst noch mal übersetzt hat.

Ignoranz und Gegenwind

1968 dann hatte Petri Glück: Er wurde Direktor des Institutes für Informationssystemforschung der neu gegründeten „Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung“ in Birlinghoven bei Bonn. Dort konnte er konzentrierter an seiner Theorie arbeiten, eigene Mitarbeiter promovieren und sich international vernetzen. Tonangebende Vertreter der Informatik haben Petri damals ignoriert oder gar bekämpft. Kritisch wurde es bei einer Evaluierung seines Institutes 1974. Aber einige vorausschauende Persönlichkeiten unterstützten ihn, insbesondere Wilfried Brauer, der 1971 zum ersten ordentlichen Professor des neugegründeten Instituts für Informatik an der Universität Hamburg berufen worden war, oder Brian Randell, der 1971 Professor of Computing Science an der University of Newcastle wurde. Die Universität Dortmund hat Petri damals eine Professur angeboten. Ende der 1970er Jahre wurde vielen klar, dass verteilte Systeme zunehmend eine wichtige Rolle spielen würden, und dass Petri seit Langem die dazugehörigen Fragestellungen verfolgt hat. Damit begann die weltweite Akzeptanz der Petri-Netze als Modellierungstechnik für verteilte Systeme.

Dabei hat es Petri sicher gefallen, dass nunmehr seine Modellierungstechnik und das Gebiet der verteilten Systeme weltweit zunehmendes Interesse fanden. Allerdings wurde Verteiltheit meist nicht als Anlass zur Suche nach einer prinzipiell neuen Fundierung der Informatik genommen, sondern nur als Zusatz zu bekannten sequenziellen Konzepten, so wie es auch andere Formalismen machen, z.B. Prozessalgebren und parallele Programme.

Intuitiv und kompakt

Die Petri-Netze selbst wurden verallgemeinert. Insbesondere wurden Varianten entwickelt, die, „schwarze“ Marken durch „gefärbte“ Marken und Datenelemente ersetzen. Damit kann man sehr intuitiv den Umgang mit Daten modellieren, und man erhält sehr kompakte Darstellungen. Alle möglichen Komponenten wurden mit Zeitdauern oder Zeitstempeln versehen. Es wurden zahlreiche Werkzeuge programmiert, und es entstand eine weltweite Infrastruktur aus speziellen Tagungen, Sonderbänden, Vorlesungsskripten und Lehrbüchern zu Petri-Netzen, neben vielerlei Beiträgen in Tagungen zu generellen theoretischen und angewandten Fragen der Informatik. Das ist bis heue so geblieben. Eine Suche im Internet liefert je nach Fragestellung zu Petri-Netzen zwischen einer halben und vier Millionen Treffer. Eine späte Anerkennung seiner Idee.

Aber Petri wollte ja viel mehr. Schon in den 1970er Jahren hat er beispielsweise nach einem sehr allgemeinen Konzept von Invarianten in der Informatik gesucht, nach dem Vorbild der Physik: Was bleibt erhalten, wenn ein Auto beschleunigt und an die Wand gefahren wird? Die Menge an Energie. Erst steckt sie im Benzin, dann in der Beschleunigung, und zum Schluss in verformtem Blech. „Energie“ ist ein extrem abstrakter, aber zugleich intuitiver Begriff. Überträgt man ihn auf die Informatik, dann lauten die Fragen: Was bleibt erhalten, wenn ein Rechner das Wetter von morgen ausrechnet, die Jahresbilanz einer Firma erstellt, den Speicher aufräumt, ein Programm übersetzt oder eine Datenbank durchsucht? Dafür fehlen uns die passenden Begriffe. Petri hat einen Invarianten-Begriff auf der Basis einer „formalen Pragmatik“ mit „streng geregeltem Informationsfluss“ [3] gesucht. Das hat dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der GMD, Norbert Szyperski, gefallen. Als Wirtschaftsinformatiker hat Szyperski Petris Anliegen besser verstanden als so mancher „reine“ Informatiker. Auch nach seiner Pensionierung 1991 suchte Petri weiter nach einer Fundierung der Informatik, mit der Physik als Vorbild. Was er dazu publiziert hat, beispielsweise seine Abhandlung über „State-transition structures in Physics and in Computation“ [4], wurde wenig beachtet.

Offen und uneitel

Carl Adam Petri war außerordentlich offen und völlig uneitel. Jede Frage von Besuchern oder Mitarbeitern hat er geduldig beantwortet. Auf aggressives, vorwurfsvolles Argumentieren ist er allerdings gar nicht erst eingegangen. Wer Petri über einen längeren Zeitraum persönlich kennen lernen durfte, kann sicherlich eine Reihe hübscher Anekdoten berichten. Beispielsweise waren nachmittägliche Besuche in seinem Büro ein wenig gefürchtet: sie endeten gelegentlich recht spät und im Dunkeln, weil Petri das Licht anzumachen vergaß. Auf Fragen hat er manchmal zunächst nicht reagiert. Er dachte nach, höchstens unterbrochen vom Schreck über die herunterfallende Asche seiner Zigarette. Dann, nach gefühlten 10 Minuten, kam eine druckreife Antwort. Ende der 1970er Jahre beantragte Petri für jeden seiner Mitarbeiter einen Computer. Ein Computer passte inzwischen in ein Büro, und kostete „nur“ einige 10.000 DM. Auf die Frage der Verwaltung, ob diese vielen Computer denn wirklich ausgenutzt würden, antwortete er nicht etwa mit einer langen Erläuterung über den Vorteil unmittelbarer Verfügbarkeit. Die knappe, aber reiflich überlegte Antwort von Petri lautete: Feuermelder würden auch nicht „ausgenutzt“. Das führte in der Verwaltung natürlich zu allgemeiner Verwunderung über dieses seltsame Argument.

Für seine Arbeit wurde Petri mit vielen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet. Vermutlich hat ihm der Werner-von-Siemens-Ring für herausragende Verdienste um die Technik in Verbindung mit der Wissenschaft am besten gefallen. Dieser Preis ist zwar vielleicht nicht so sehr bekannt, denn er wird nur alle 3-4 Jahre verliehen. Aber über die Preisträger entscheiden die Präsidenten und Vorstände der Deutschen technischen und wissenschaftlichen Vereinigungen. Bei der Verleihung des Ringes an Petri im Jahr 1997 war der damalige Bundespräsident Roman Herzog dabei.

Petri-Netze überall

In den technischen Disziplinen wie Maschinenbau, Verkehrstechnik, Produktionstechnik etc. wurde schon früh mit Petri-Netzen geplant und Systeme entworfen. Ingenieure entwerfen ja Pläne und Modelle, bevor sie etwas bauen. Dieses Vorgehen wollte Petri auch für die Informatik etablieren. Er sah Informatiker nicht als geniale Künstler, die aus der Intuition heraus Computer programmieren. Und mit dieser Sicht war er nicht allein. Ingenieurmäßiges Vorgehen haben damals auch andere propagiert, beispielsweise Friedrich Bauer aus München. Petri und Bauer hatten mehr gemeinsam als man glaubt. Nur wollte Petri Fragen stellen, und Bauer wollte Lösungen sehen. 

Petri war der zweite Informatiker Träger des Werner-von-Siemens-Ringes. Konrad Zuse bekam ihn 1964. Zuse und Petri kannten sich gut. Anfang der 1980er Jahre kam Zuse ein paar mal zu Besuch zu Petri nach Birlinghoven. Zuse war fasziniert von Petri’s Ideen und hat seine Sicht auf Petri-Netze in einem kleinen Buch dargelegt [5]. In Petris Büro hing auch ein selbstgemaltes Ölgemälde von Zuse, das der ihm geschenkt hatte. Beide waren sich sehr einig in der Ansicht, dass die Informatik eine eigenständige Fundierung braucht. Zuse hätte es gern gesehen, wenn dabei sein Plankalkül aus den 1940er Jahren wieder hervorgeholt würde, denn Zuse’s fundamentaler Beitrag zur Informatik wurde und wird ja international und besonders im angelsächsischen Raum wenig beachtet.

International vernetzt

Das sieht bei Petri’s Beitrag besser aus, denn schon Ende der 1970er Jahre haben sich die Petri-Netz-Forscher international organisiert. In den 1980er Jahren haben französische, niederländische, italienische, finnische, dänische und englische Informatiker, die Sache vorangetrieben und reihum die jährliche Petri-Netz-Konferenz organisiert. Und im damaligen Ostblock haben viele mitgemacht, besonders in Polen und der DDR. In den 1990er Jahren kamen dann in größerem Umfang auch Japan und die USA dazu. Heute kommen aus China hochwertige Beiträge und Bücher zu speziellen Anwendungen, bei denen man formale Modelle braucht.

Systembiologen modellieren biochemische Prozesse, Wirtschaftsinformatiker modellieren betriebliche Abläufe. Produktions- und Eisenbahntechniker modellieren technische Prozesse. Dazu legen sie sich jeweils ihre eigenen Varianten von Petri-Netzen zurecht. Petri fand das zwar durchaus legitim, aber er hätte es lieber gesehen, wenn diese Varianten systematischer aus der Grundform abgeleitet wären. Zunehmend wird auch in der Softwaretechnik modelliert und analysiert. Dort, wo die UML dann doch nicht reicht, werden Petri-Netze wichtig.

Fachlich floss also vieles von Petri’s Beiträgen in den klassischen Bestand der Informatik. Das beweist zunächst einmal, dass es auch in der Informatik Visionäre geben kann. Vieles was Petri zu Beginn der 1960er Jahre vorausgesehen hat, ist eingetreten, insbesondere die zentrale Rolle asynchron kooperierender Systeme und die Verwendung der neuen Technik zur Kommunikation. Petri war in seiner Weitsicht unbeirrbar und unabhängig wie nur wenige. Der jeweils aktuelle Zeitgeist und vorherrschende Moden haben ihn nie wirklich interessiert. Ihn hat der große Bogen, die Informatik als neue Wissenschaft, fasziniert. Er hat beobachtet und analysiert, was um ihn herum in der Informatik entstand, insbesondere in der „Künstlichen Intelligenz“. Aber nur wenig davon hat ihn wirklich beeindruckt.

Informatik als Wissenschaft

Es ist fraglich, ob heutzutage ein derart unabhängiger Kopf wissenschaftlich überleben könnte. Petri haben die jungen Jahre des Aufbruchs der Informatik geholfen, als allgemein noch vieles weniger festgezurrt war als heutzutage. Nicht alle seine Visionen haben sich bestätigt – besonders seine Vorschläge, welche physikalischen Effekte die Informatik nutzen kann, sind bisher nicht beachtet worden. Vielleicht wird in einigen Jahren oder Jahrzehnten auch davon einiges reüssieren, beispielsweise seine Vorschläge zur Verwendung reversibler Operationen, seine grundlegenden Überlegungen zu kontinuierlichen und diskreten Abläufen in Zeit und Raum [6][7]. Aber auch das kann man von Petri lernen: Trotz der rasanten Erfolge der Informatik sollten wir uns mehr um „Informatik als Wissenschaft“ kümmern. Petri empfand den Zustand der Informatik immer als “prä-Newton“; erst recht als „prä-Einstein“.

Auf dem Gelände von Schloss Birlinghoven wird seit nunmehr 50 Jahren über Informatik-Themen geforscht; erst im Rahmen der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, jetzt in vier Informatik-orientierten Fraunhofer-Instituten. Von hier aus hat Petri dem Renommee der deutschen Informatik einen großen Dienst erwiesen. Am Eingang zum Schloss erinnert eine Büste an einen großen Pionier der Informatik, Konrad Zuse. Es stünde der Fraunhofer-Gesellschaft als forschende Einrichtung gut zu Gesicht, Petri genauso zu ehren, auch wenn sein Beitrag zur Informatik zu seiner Zeit keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen gebracht hat. Nicht nur in den angelsächsisch geprägten Ländern sollte man ein wenig stolz sein auf seine eigenen weltweit anerkannten wissenschaftlichen Pioniere.



Verweise:
[1] Carl Adam Petri: Kommunikation mit Automaten Dissertation, Universität Darmstadt, Schriften des Instituts für instrumentelle Mathematik, Universität Bonn, Nr 2, (1962)
[2] Carl Adam Petri: Communication with Automata, Griffis Air Force Base, New York. Technical Report, RADC-TR-65-377, Vol. 1, Suppl. 1 (1966)
[3] Carl Adam Petri: Grundsätzliches zur Beschreibung diskreter Prozesse 3. Colloquium über Automatentheorie Hannover (1967)
[4] Carl Adam Petri: State-transition structures in Physics and in Computation International Journal on Theoretical Physics 21 (12) (1982)
[5] Konrad Zuse: Petri-Netze aus der Sicht des Ingenieurs Vieweg+Teubner, 1980
[6] Carl Adam Petri: Grundsätzliches zur Beschreibung diskreter Prozesse 3. Colloquium über Automatentheorie Hannover (1967)
[7] Carl Adam Petri: Nets, Time and space, Theror.Comp. Sci.,153, 3 – 48 (1996)
[8] Petri Net World www.informatik.uni-hamburg.de/TGI/PetriNets/index.php
[9] Einar Smith: Carl Adam Petri: Eine Biographie. Springer-Verlag (2014); Englisch: Carl Adam Petri – Life and Science Springer-Verlag (2015)




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Carl Adam Petri war überzeugt, dass viele der in den Natur- und Ingenieurwissenschaften untersuchten oder konstruierten Systeme entweder diese Eigenschaften besitzen oder durch asynchrone, nebenläufige Modelle hinreichend genau beschrieben werden können. Und er hatte Recht. In technischen, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Systemen passieren viele Dinge gleichzeitig. Zugleich reicht es häufig aus, zur Erfassung der wesentlichen Vorgänge, beispielsweise in einem chemischen Reaktor, die wichtigen Ereignisse wie Öffnen oder Schließen eines Ventils, das Über- oder Unterschreiten eines Drucks, eines Pegels etc. zu erfassen. Es war die große Leistung von Petri, die Sicht auf Systeme auf das absolut Wesentliche zu reduzieren und dafür geeignete Abstraktionen einzuführen. Die weltweite Verbreitung von Petri-Netzen bestätigt dies.   Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Erweiterungen für elementare Petri-Netze vorgeschlagen, um Zeitbedingungen zu erfassen und Zustände differenzierter zu modellieren, als dies durch das Stellen/Marken-Konzept der elementaren Petri-Netze möglich ist.
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